Über 500 Jugendliche sterben jedes Jahr in Deutschland durch Suizid, und rund 10.000 unternehmen einen Suizidversuch. Das zeigen Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Runtergebrochen bedeutet das: 833 Versuche pro Monat, 27 Versuche pro Tag, 52 Minuten ein Versuch.
Hinter jeder Zahl steckt eine Geschichte. Zum Beispiel die von Lea. Sie ist 15 und sitzt an einem Dienstagmorgen in einer Biologieklausur. Während ihre Mitschüler:innen konzentriert schreiben, verschwimmen für sie die Buchstaben auf dem Papier. Ihr Herz rast, ihre Hände zittern. Sie hebt die Hand, bittet darum, kurz rausgehen zu dürfen. Fünf Minuten später sitzt sie wieder da – mit einem geübten Lächeln im Gesicht, das den Kloß im Hals überdeckt. Niemand merkt, dass Lea eben auf der Toilette geweint hat.
Lea ist keine reale Schülerin, sondern ein Beispiel. Aber Szenen wie diese wiederholen sich täglich in deutschen Klassenzimmern – oft unbemerkt, manchmal bewusst verdrängt. Während Schule offiziell als „Bildungsort“ gilt, wird sie für viele Jugendliche zum zentralen Belastungsfaktor.
Zahlen, die beunruhigen
Studien sprechen eine klare Sprache: Laut der COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gaben 9,5 Prozent der Jugendlichen an, schon einmal Suizidgedanken gehabt zu haben. Eine Untersuchung des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) von 2022 zeigt, dass 3,2 Prozent der Jugendlichen innerhalb eines Jahres sogar einen Suizidversuch unternahmen. Hinzu kommt: Über 60 Prozent aller Schülerinnen und Schüler fühlen sich durch Leistungsdruck und schulische Anforderungen psychisch stark belastet.
Diese Zahlen sind erschütternd – und sie entstehen nicht im luftleeren Raum. Ein erheblicher Teil der Belastungen hat direkt mit Schule zu tun: Prüfungsdichte, ständiger Notendruck, Versagensängste, fehlende Rückzugsräume und mangelnde individuelle Unterstützung.
Schule als Stressverstärker
Der DAK-Kinder- und Jugendreport sowie internationale HBSC-Studien belegen: Schule zählt zu den größten Stressquellen im Leben von Jugendlichen. Die Folgen sind sichtbar – psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Schlafstörungen, aber auch Panikattacken und depressive Symptome.
Und doch bleibt die Frage: Wie reagiert das System darauf? Sollte das Schulsystem im bevölkerungsreichsten Land Europas nicht längst über klare Pläne und verbindliche Regelungen für den Umgang mit psychischen Problemen verfügen?
Politische Leitplanken – aber kaum Verbindlichkeit
Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat in den letzten Jahren durchaus reagiert. Bereits 2012 empfahl sie, Gesundheitsförderung und Prävention stärker im Schulalltag zu verankern. Doch dann passierte lange wenig. Erst im März 2025 – also mehr als ein Jahrzehnt später – folgte eine neue Empfehlung: Schulen sollen erkrankte Kinder, ausdrücklich auch psychisch belastete, besser unterstützen, etwa durch multiprofessionelle Teams, digitale Unterrichtsformen oder gezielte Rückkehrkonzepte.
Man kann sich fragen: Ist 2025 dafür nicht reichlich spät? Die Datenlage zu steigenden psychischen Belastungen bei Jugendlichen liegt seit Jahren auf dem Tisch, die Warnungen von Beratungsstellen sind längst nicht neu. Dass die KMK erst jetzt eine konkrete Empfehlung ausspricht, wirkt wie ein verspätetes Eingeständnis eines Problems, das viele Schüler:innen schon viel zu lange betrifft.
Der Beweis, dass psychischer Druck kein neues Phänomen ist, liegt in den Langzeitdaten: Die HBSC-Studien zeigen, dass schon zwischen 1994 und 2014 der Anteil der Jugendlichen, die sich durch schulische Arbeit gestresst fühlen, von etwa 18,4 % auf 26,7 % stieg. In späteren Erhebungen meldeten bereits ein Drittel der Jungen und knapp die Hälfte der Mädchen multiple psychosomatische Beschwerden. (HBSC 2009/10–2022) edoc-Server
Diese Trends machen klar: Die Krise war da lange vor 2025 – und doch reagiert das System erst jetzt.
Und selbst diese Empfehlungen bleiben letztlich nur unverbindliche Papiere. Verbindliche Mindeststandards? Fehlanzeige. Wie und ob sie umgesetzt werden, liegt allein bei den einzelnen Bundesländern. Dort entscheidet am Ende nicht selten die Finanzlage einer Kommune oder die Personaldecke einer Schule. Die Realität sieht vielerorts ernüchternd aus: zu wenige Schulsozialarbeiter, kaum Schulpsycholog:innen, überforderte Lehrkräfte – und eine Politik, die Verantwortung allzu gern weiterreicht.
JugendNotmail schlägt Alarm
Besonders eindringlich beschreibt es Herr Palik von der Online-Beratungsplattform JugendNotmail. Jährlich bearbeitet sein Team 4.500 bis 5.000 Anfragen, vor allem von 13- bis 19-Jährigen. Und die Themen sind eindeutig: Schuldruck, Mobbing, Leistungsangst.
„Jugendliche mit Mobbingerfahrungen verletzen sich häufiger selbst als Jugendliche ohne diese Erfahrungen. Und Jugendliche, die sich selbst verletzen, haben auch häufiger Suizidgedanken. Wenn man Mobbing frühzeitig anspricht und wirksam verhindert, kann man Selbstverletzung und Suizidgedanken effektiv vorbeugen.“
Palik warnt: Viele Schulen hätten keinen klaren Umgang mit psychisch belasteten Jugendlichen. Während einige Programme aufbauen, seien andere „komplett blank“. Lehrkräfte hätten schlicht nicht die passende Ausbildung, um Jugendliche mit Panikattacken oder Depressionen aufzufangen. Und Schulsozialarbeit? Gibt es nicht flächendeckend.
Deshalb fordert JugendNotmail nicht weniger als einen Systemwechsel:
- Kleinere Klassen, damit Lehrkräfte Belastungen überhaupt wahrnehmen können.
- Vertrauenspersonen, die nicht nur auf dem Papier existieren, sondern sichtbar sind.
- Jährliche Thematisierung psychischer Belastungen im Unterricht – von Stress und Mobbing über Depressionen bis hin zu Suizidalität.
- Verpflichtende Schulungen für Lehrkräfte, damit sie Krisen erkennen und reagieren können.
Und politisch geht Palik noch weiter: „Deutschland braucht ein bundesweites Suizidpräventionsgesetz. Nicht nur für JugendNotmail, sondern für alle, die im Helfersystem arbeiten.“
Ein solcher Gesetzesentwurf wurde von der Bundesregierung zwar 2024 vorgestellt, seit dem Bruch der Regierung jedoch nicht weiter verfolgt-
Deutlicher lässt sich kaum formulieren, dass Prävention nicht von Glück und Zufall abhängen darf.
Lehrerverbände: Fünf Säulen – aber die Realität hinkt hinterher
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Stefan Düll, beschreibt in seiner Stellungnahme ein „5-Säulen-Modell“ für Schulen: Fortbildungen, eine Kultur des Hinschauens, flankierendes Fachpersonal, Krisenteams und benannte Ansprechpersonen.
Das klingt schlüssig – doch selbst Düll räumt ein: Ohne Zeit, ohne Budget und ohne klare Strukturen bleibt vieles Wunschdenken. Ansprechpersonen ohne Freistellung werden zur Alibi-Rolle, Krisenteams ohne Übung zur Papierversion.
Blick nach England – ein Vorbild?
In Großbritannien hat die Politik gehandelt. Nach intensiven Kampagnen von Aktivisten wie Ben West, dessen Bruder durch Suizid starb, wurden an allen Schulen Senior Mental Health Leads (SMHLs) eingeführt. Diese speziell geschulten Lehrkräfte sind verpflichtet, sich um Strategien für mentale Gesundheit zu kümmern – Prävention, Früherkennung, Krisenpläne. Finanziert wurde dies lange durch staatliche Grants, Ziel: jede Schule hat eine klar benannte Ansprechperson.
Natürlich: Auch dort gibt es Umsetzungsprobleme. Aber die Botschaft ist deutlich: Psychische Gesundheit ist Bildungsaufgabe. In Deutschland dagegen bleibt vieles unverbindlich – und hängt am Engagement einzelner Lehrkräfte oder Sozialarbeiter.
Kommentar: Wir dürfen nicht länger warten
Die Zahlen sind eindeutig, die Stimmen aus der Praxis laut. Schule darf kein blinder Fleck mehr sein, wenn es um psychische Gesundheit geht. Es reicht nicht, wenn Prävention und Hilfe vom Glück abhängen – ob eine engagierte Lehrkraft hinschaut oder eine Schule zufällig eine Schulsozialarbeiterin hat.
Was wir brauchen, sind verbindliche Standards: Pflichtschulungen, klare Programme gegen Mobbing, sichtbare Vertrauenspersonen in jeder Schule, und ein nationales Suizidpräventionsgesetz, das auch Schulen mit einschließt.
Denn jeder Suizidversuch ist ein Hilferuf, der zu lange ungehört blieb. Und jeder Hilferuf, den wir überhören, ist ein Versagen des Systems.
Du bist nicht allein – Hilfsangebote bei Problemen
Akute Notlage oder Suizidgedanken? Wähle sofort die 112 (24/7)
TelefonSeelsorge (24/7, kostenfrei, anonym): 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222. Auch online unter telefonseelsorge.de.
Nummer gegen Kummer für Kinder & Jugendliche: 116 111 (Mo–Sa, 14–20 Uhr).
Für Eltern: 0800 111 0 550.
JugendNotmail: kostenfrei & anonym, 24/7 per Chat oder Mail: jugendnotmail.de.